Mit KI in die Zukunft: Wie Bozen seine Verwaltung neu denkt
BOZEN, Italien – Die Geschichte der Provinz Bozen ist genauso eindrucksvoll wie die alpine Landschaft mit ihren schier endlosen Gipfeln und Tälern.
Vor dem Ersten Weltkrieg war Bozen Teil von Österreich-Ungarn, einem großen Schmelztiegel von Kulturen und Sprachen. Heute ist es eine autonome Provinz Italiens mit eigenen Strukturen.
Die Mehrheit der rund 550.000 Einwohnerinnen spricht einen deutschen Dialekt als Muttersprache. In manchen Tälern wird zudem, als dritte Sprache, Ladinisch gesprochen.
„In gewisser Weise ist Bozen wie ein kleines Europa“, sagt Stefan Gasslitter, gebürtiger Südtiroler und Generaldirektor des öffentlichen IT-Dienstleisters SIAG. „Wir haben verschiedene Sprachen, verschiedene Kulturen und das bereichert das Leben hier ungemein. Man kann sich das Beste aus allem holen.“
Für Gasslitter ist diese kulturelle und sprachliche Vielfalt ein idealer Nährboden für Innovation. Gemeinsam mit der Landesverwaltung und Microsoft arbeitet er daran, das traditionelle Verwaltungsverständnis neu zu denken: Die Bedürfnisse der Kund*innen – der Bürger*innen – stehen im Mittelpunkt.
Dafür entsteht ein nutzerfreundliches Portal, unterstützt von einer KI-Begleiterin und moderner Datenanalyse. Damit sollen Bürger*innen schneller finden, was sie suchen und direkt erfahren, welche Leistungen und Unterstützungen ihnen zur Verfügung stehen, alles an einem zentralen Ort.
Die Provinz hat ihre digitale Infrastruktur mit einer Suite von Microsoft-Tools auf der Power Platform aufgebaut, einem Low-Code-, Cloud-basierten System, das nahtlos mit Microsoft 365, Dynamics 365 und Azure integriert ist. Für die Entwicklung der KI-Anwendungen sowie die Verwaltung der Daten und Interaktionen mit Bürger*innen kommt Microsoft Foundry zum Einsatz.
„Es war immer mein Traum, die Lücke zwischen Bürger*innen und Verwaltung zu schließen und Vertrauen zurückzugewinnen, denn wenn man Daten sinnvoll nutzt, können Bürger*innen wirklich direkt mit der Verwaltung interagieren.“
Stefan Gasslitter in den Alpen nahe Bozen, Italien. Er ist der Generaldirektor der Südtiroler Informatik AG (SIAG), auf Italienisch Informatica Alto Adige S.p.A. genannt. Sein Ziel ist es, mit einem neuen, KI-gestützten Bürgerportal das „Vertrauen in die Regierung wieder aufzubauen.“ Foto: Chris Welsch für Microsoft.
Im Zentrum steht das myCIVIS-Portal, über das Bürger*innen per Sprache, Web oder Messaging mit EMMA, der mehrsprachigen KI-Begleiterin aus Microsoft Copilot Studio, kommunizieren und Services, darunter auch Gesundheitsservices, abrufen können.
Das neue System wird sämtliche vorhandenen Daten über Bürger*innen aus Landes- und Bundesbehörden zusammenführen. Wer das Feature nutzt, erhält proaktiv Vorschläge zu Leistungen, auf die er oder sie Anspruch hat.
Wenn Sie zum Beispiel ein Kind mit einer Lernbehinderung haben, wird die Funktion die verfügbaren Unterstützungsangebote sowie den Weg dorthin auflisten. Wenn Sie Landwirt sind und Anspruch auf eine Ernteförderung haben, wird die Antwort bereitstehen, noch bevor Sie danach fragen. Anfragen, die nicht sofort erledigt werden können, werden in Echtzeit überwacht. Das Ergebnis: weniger Rätselraten, weniger Warten und kürzere Warteschlangen.
„Es war immer mein Traum, die Lücke zwischen Bürger*innen und Verwaltung zu schließen und Vertrauen zurückzugewinnen“, sagt Gasslitter, Vorstand von Südtiroler Informatik AG (SIAG), im italienischen bekannt als Informatica Alto Adige S.p.A., „Wenn man Daten sinnvoll nutzt, können Bürger*innen wirklich direkt mit der Verwaltung interagieren.“
Datenschutz sei essenziell: Wer die proaktive KI nicht nutzen möchte, kann sie einfach abwählen. Das neue myCIVIS befindet sich aktuell in einer Betaphase und soll im März live gehen. Bereits seit 2016 arbeiten die Provinz Bozen und Microsoft zusammen, Vertrauen und Kontinuität waren entscheidend für diese neue digitale Reise.
Bürokratie überbrücken, Vertrauen aufbauen
Stefan Walder, Leiter der Landeswohnungsbehörde, testet das neue Portal gemeinsam mit einigen Mitgliedern seines Teams. Die Abteilung erhält jährlich mehr als 2.000 Anträge auf Wohnbeihilfe. Veränderungen seien in öffentlichen Verwaltungen wie seiner oft sensibel, sagt Walder: „Wenn man eine Veränderung in einer öffentlichen Verwaltung vornimmt, berührt das immer politische und gesellschaftliche Sensibilitäten. Für einige von uns wird das kein Thema sein. Aber für viele andere möglicherweise schon.“ Weiters führt er an, dass einige Mitarbeiter*innen Angst um ihre Jobs haben, andere davor, Dinge anders machen zu müssen.
Schon bevor die neue myCIVIS-Plattform vorgestellt wurde, hatte sein Team gesehen, wie KI in Form von Microsoft 365 Copilot (die Landesregierung verfügt über 5.000 Copilot-Lizenzen und plant, weitere hinzuzufügen) dabei half, Anfragen von Bürger*innen zur Wohnbeihilfe schneller und einfacher zu beantworten.
„Sie haben bereits gesehen, was unser KI-Tool leisten kann, wenn es darum geht, telefonisch mit Bürger*innen zu interagieren und verschiedene Arten von Fragen mit weniger Aufwand zu beantworten“, so Walder.
Südtirol stehe, wie der Rest von Italien, vor einem demografischen Engpass: Viele ältere Mitarbeitende gehen in Pension, zu wenige Junge kommen nach. Das neue myCIVIS-System mit KI-Chatbot entlastet, indem es häufige Fragen sofort beantwortet und dem Team mehr Zeit für persönliche Anliegen lässt.
„Mit KI kann man eine schnellere und effizientere Zusammenfassung all jener Anfragen erhalten, die die Bürger*innen an uns schicken“, sagte Walder. Da das neue System Daten speichert, lernt es, welche Fragen am häufigsten gestellt werden. „Das wird uns insgesamt ermöglichen, noch effektiver die richtigen Antworten zu geben.“
KI nutzen, um Bürger*innen ins Zentrum zu stellen
„Ich habe viele Prinzipien aus der Privatwirtschaft übertragen: den Menschen ins Zentrum zu stellen und proaktiv statt reaktiv zu handeln. Das ist innovativ – deshalb haben wir EU-Fördermittel erhalten.“
Josef-Thomas Hofer, der Direktor der IT-Abteilung der Provinz Bozen in Italien, sagte, dass er in seiner Funktion eine bürgerorientierte Denkweise eingebracht habe. Foto: Chris Welsch für Microsoft.
Dies spiegelt die Hoffnungen wider, die Josef-Thomas Hofer für die öffentliche Verwaltung Bozens hat. Er ist seit vier Jahren Leiter der IT-Abteilung der Provinz Bozen und verantwortet die digitale Transformation der Provinz. Wie Stefan Gasslitter von der SIAG, mit dem er eng zusammenarbeitet, kam Hofer aus dem privatwirtschaftlichen Sektor in die öffentliche Verwaltung.
„Ich habe viele Prinzipien aus der Privatwirtschaft übertragen: den Menschen ins Zentrum zu stellen und proaktiv statt reaktiv zu handeln. Das ist innovativ – deshalb haben wir EU-Fördermittel erhalten,“ so Hofer.
Die Provinz Bozen erhielt Fördermittel für das Progetto Bandiera (Projekt Bandiera, Teil eines italienischen Wirtschaftsprogramms mit dem Kürzel PNRR, unterstützt von der Europäischen Union). Die Mittel seien aufgrund des innovativen Ansatzes bewilligt worden, den die Provinz beim Einsatz von KI und anderen digitalen Werkzeugen für den Aufbau des myCIVIS-Portals sowie für die Implementierung einer Plattform zum Betrugsmanagement gewählt habe.
“Microsoft spielt eine zentrale Rolle in dem, was wir tun werden, beispielsweise im Gesundheitsbereich,“ so Hofer weiters.
In der Region gibt es sieben Krankenhäuser, und Hofer sowie andere Verantwortliche der Provinz Bozen planen, diese zu einem Vorzeigemodell dafür zu machen, wie das Gesundheitswesen KI-Werkzeuge und Datenanalysen nutzen kann, um Patient*innen und sogar Forschenden besser zu dienen.
Das Krankenhaus in Meran nimmt an einem Pilotprojekt als „Krankenhaus der Zukunft“ teil, in dem verschiedene KI-Tools eingesetzt werden, um Ärzt*innen von bürokratischen Aufgaben und Dokumentationspflichten zu entlasten, sodass sie mehr Zeit für die Behandlung von Patient*innen haben.
Das myCIVIS-System beinhaltet bereits einige medizinische Unterstützungsfunktionen. So sind beispielsweise bestimmte Gesundheitsakten für Bürger*innen online verfügbar.
Markus Perger ist in der Region geboren und arbeitet bei einem Tech-Start-up in Bozen namens touristinfo.ai. Perger zeigte, wie er das myCIVIS-Portal nutzt, indem er sich in das System einloggte und die Vielzahl der Services hervorhob, auf die er zugreifen kann. Er erklärte, dass die Plattform zwar viele Funktionen bietet, er jedoch am häufigsten den sicheren Zugriff auf seine medizinischen Unterlagen nutzt.
„Die einfachen Notizen von einem Arztbesuch waren früher alle auf Papier. Jetzt kann ich, wenn ich etwas brauche, einfach hineingehen und alles herunterladen, was benötigt wird.
Touristinfo.ai ist Teil des NOI-Techpark-Inkubatorprogramms der Provinz Bozen. Zudem gehört das Start-up zum Microsoft for Startups Founders Hub. Das Unternehmen nutzt Datenbanken der Provinz und andere Datenquellen, um Besucher*innen Informationen zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Unterkünften und Sehenswürdigkeiten bereitzustellen und ihnen so die individuelle Planung ihres Aufenthalts zu ermöglichen.
Perger führt das als Beispiel an, wie die Provinz Technologie im großen Ganzen annimmt, hebt aber auch hervor, wie die Provinz versucht Menschen wie ihm und seiner Familie zu helfen: „Ich denke, wir bewegen uns mit den digitalen Initiativen in die richtige Richtung. Alle öffentlich verfügbaren Daten zu verknüpfen und sie mit den eigenen persönlichen Datensätzen zu verbinden wird für uns sehr hilfreich sein.“
Die Menschen hinter der Technologie
Hedwig Unterfrauner ist die Leiterin des Competence Centers der SIAG – ihr Team entwickelt das Frontend der myCIVIS-Plattform. Unterfrauner wurde in den Schätzungsrat von Feldthurns nahe Bozen gewählt, wo sie direkt mit den rund 3.000 Einwohnerinnen des Dorfes in Kontakt steht. „Es ist ein perfektes Gleichgewicht, weil ich in dieser Rolle direkt mit Familien zu tun habe, die mit ihren Problemen zu mir kommen, während ich in der IT-Welt viel Zeit hinter dem Laptop oder PC verbringe.“
Sie betont: „Wir haben sehr viele Nutzer*innentests durchgeführt und festgestellt, dass Bürger*innen in der Regel gar nicht wissen, welche Dienstleistungen ihnen zur Verfügung stehen.“ Das könne von Schulstipendien über Wohnbeihilfen bis hin zu Unterstützungen für Landwirtschaft und Betriebe reichen. „Dank dieser neuen Technologien können Bürger*innen jetzt auf direkte und natürliche Weise auf Informationen zugreifen, so als würden sie mit jemandem sprechen, ohne dabei komplizierte Leistungsbeschreibungen lesen und interpretieren zu müssen, um herauszufinden, was für sie passend sein könnte.“
„Ich denke immer darüber nach, was ich als Techniker tun kann – und was ich als Vater und Bürger einfordern sollte. Und wenn ich an meinen Sohn und meine Tochter denke, denke ich immer: Wir müssen die menschliche Seite der Technologie bewahren. Dieser Gedanke begleitet unser Projekt ständig.“
Alessio Trazzi mit seiner Familie. Foto zur Verfügung gestellt von Alessio Trazzi.
Für Alessio Trazzi ist es entscheidend, sicherzustellen, dass die eingesetzte Technologie menschenzentriert bleibt. Als Chief AI Officer der SIAG ist Trazzi einer der zentralen Akteur*innen beim Aufbau der myCIVIS-Plattform und arbeitet zudem an weiteren Aspekten der digitalen Transformation Bozens.
Er bemerkte, dass durch die Art und Weise, wie das myCIVIS-System aufgebaut wird, ein „Human-in-the-loop“-Ansatz die notwendige Kontrolle sicherstellt: In komplexen Fällen werden Bürger*innen an menschliche Mitarbeitende weitergeleitet, die die Anliegen lösen. Alle KI-gestützten Komponenten werden von Data Scientists und KI-Ingenieur*innen überwacht und kontinuierlich verbessert. „Das Ziel ist einfach: eine leichte, zugängliche Nutzererfahrung in natürlicher Sprache, die rund um die Uhr verfügbar ist“, sagte er.
Trazzi und seine Frau haben einen vierjährigen Sohn und eine einjährige Tochter. Er betont, dass er sie stets im Hinterkopf hat, während er dabei hilft, ein System zu gestalten, das sich mit den weitreichenden Veränderungen weiterentwickeln wird, die KI in die Welt bringt. „Wenn ich beschreibe, was ich tue, sage ich, ich bin Informatikingenieur und Vater“, sagte er. „Ich denke immer darüber nach, was ich als Techniker tun kann – und was ich als Vater und Bürger einfordern sollte. Und wenn ich an meinen Sohn und meine Tochter denke, denke ich immer: Wir müssen die menschliche Seite der Technologie bewahren. Dieser Gedanke begleitet unser Projekt ständig.“