Zum Hauptinhalt springen

Der Ort, der Kinder atmen lässt

Letzten Dezember kamen die Zwillinge Amelia und Bianca in Deutschland zur Welt. Die beiden haben die gleichen lebendigen Augen und das gleiche süße Lächeln. Aber anders als ihre Schwester ist Bianca schwer krank. Sie wurde mit Herzproblemen geboren. Ihr fehlen Rippen und Wirbel und sie hat nur eine Niere. Ohne die Hilfe spezieller medizinischer Geräte kann sie nicht atmen.

Das Kinderhaus AtemReich in München, das derzeit Biancas Zuhause ist, ist ein Ort, der in Deutschland einzigartig ist. Normalerweise leben Kinder mit schweren Atemproblemen dauerhaft in den Intensivstationen der Krankenhäuser. Das gemeinnützige Kinderhaus AtemReich wirkt eher wie ein richtiges Zuhause als wie eine medizinische Einrichtung. 127 Mitarbeiter kümmern sich um 18 Kinder, die rund um die Uhr medizinisch versorgt werden, Zeit zum Spielen haben und, wenn dies möglich ist, draußen im Garten an der frischen Luft sitzen.

Tamara Schaper, die Mutter von Bianca, erzählt, dass sie, als ihr Ärzte empfahlen, die damals sechs Monate alte Bianca von einer Intensivstation in das Kinderhaus AtemReich zu verlegen, „besorgt“ und „skeptisch“ war. Sie fürchtete, sie selbst „könne Bianca nicht mehr sehen und sie würde nie mehr nach Hause kommen“.

Nun ist sie „froh“, dass Bianca dort ist. Sie sieht sie zwei bis drei Mal die Woche oder öfter, wenn sie es schafft. Allein für den Hin- und Rückweg braucht sie insgesamt vier Stunden.

„Die Mitarbeiter im AtemReich leisten Großartiges.“ Sie kümmern sich um Biancas medizinische Belange, aber zuallererst sehen sie sie als Menschen, nicht als Patientin, erklärt Tamara Schaper. „Sie geben den Kindern das Gefühl, dass sie ganz normale Kinder sind.“

Das ist das Geschenk und das Ziel des Kinderhaus AtemReich, das im wahrsten Sinne des Wortes für die Kinder ein Reich zum Atmen ist. Im Laufe der Zeit können manche Kinder vielleicht zurück nach Hause. Andere sind unheilbar krank. Alle von ihnen benötigen zum Atmen Beatmungsgeräte. Die meisten können nicht sprechen.

Biancas Mutter sagt, dass die Mitarbeiter des Kinderhauses AtemReich ihre Tochter als Person sehen, nicht als Patient.

Felicitas Hanne ist seit der Eröffnung 2006 Geschäftsführerin im Kinderhaus AtemReich. Sie wird oft für ihre zupackende Haltung, ihr großes Herz und ihr Engagement für die Mission der Einrichtung gelobt. „Das Wichtigste für uns ist, dass die Kinder heute, hier und jetzt eine gute Zeit haben, mit so viel Lebensqualität wie nur irgendwie möglich.“

Aber als Geschäftsführerin und Hauptverantwortliche für die Verwaltung der Einrichtung ist Hanne ständig mit einer nie enden wollenden Flut von Formularen, Papierkram und Personalproblemen konfrontiert.

Die Mitarbeiter kommunizierten hauptsächlich schriftlich miteinander, auf Papier oder per E-Mail. Pflegekräfte vermerkten täglich Aktuelles und Informationen zu den Kindern auf handschriftlichen Notizen. Um über die medizinischen Daten der einzelnen Kinder und andere Datensätze den Überblick zu behalten, verwendete Hanne Microsoft Access, ein älteres Datenbankprogramm. Nur sie und ein weiterer Administrator hatten die Berechtigung für die Nutzung.

Mitarbeiter einzustellen und zu halten, stellte eine weitere Herausforderung dar. Gemeinnützige Organisationen wie das Kinderhaus AtemReich haben Schwierigkeiten, mit Krankenhäusern zu konkurrieren, wenn es um Bezahlung und Leistungen geht. Das Personal arbeitet in einem Turnus rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche. Wenn also eine Person krank war und ein anderer Mitarbeiter einsprang, konnten sich bei manchen Aufgaben Fehler einschleichen, etwa bei der Bestellung von Medikamenten.

Es gab eine Menge Liebe und Mitgefühl in diesem Haus, aber es mangelte an Ordnung und Struktur.

Letzten Sommer fand in München das #Hackfest2018 von Microsoft Deutschland statt, ein zweitätiger „Hackathon“ von Microsoft-Mitarbeitern zur Unterstützung von Kunden, Partnern und gemeinnützigen Organisationen. Hanne nahm daran teil, auch wenn sie vorab nicht wirklich wusste, was sie erwarten würde.

„Meine große Hoffnung war, dass Microsoft mir helfen würde, meine Arbeit mit Microsoft Access-Datenbank auszubauen und zu verbessern“, erzählt sie über ihre damaligen Beweggründe.

Und so sprach Hanne mit den Microsoft-Mitarbeitern über das Kinderhaus AtemReich. „Wir hörten wirklich genau zu, was sie über die Kinder erzählte. Und ich glaube, die Hälfte unserer Kollegen hatten Tränen in den Augen“, erinnert sich Volker Strasser, der als Microsoft Digital Advisor normalerweise mit Unternehmenskunden arbeitet. Die Schwierigkeiten der Kinder und die des Kinderhaus AtemReich berührten ihn und er wurde der Leiter dieses Projekts.

Auch Andre Kiehne, Executive Sponsor des Projekts und Mitglied des Führungsteams von Microsoft Deutschland, erinnert sich an sein erstes Gespräch damals mit Felicitas Hanne. Es war ein „emotionaler Moment“, erzählt er. Seine Zwillingsmädchen kamen vor 13 Jahren in demselben Kinderkrankenhaus zur Welt, in dem die Idee für das Kinderhaus AtemReich entstand, und etwa zur selben Zeit. Seine Mädchen kamen zu früh auf die Welt und hatten in ihren ersten Wochen mit einigen medizinischen Probleme zu kämpfen. „Heute sind sie komplett gesund“, erklärt er, aber die Sorgen von damals hat er nicht vergessen.

Strasser erinnert sich, dass er in der Nacht nach dem Ende des Hackfests nicht schlafen konnte. „Ich dachte ständig darüber nach, wie wir dem Kinderhaus helfen könnten, wie wir diese Ideen umsetzen und dann weiter ausbauen könnten“ – für mögliche und so dringend benötigte weitere Kinderhäuser AtemReich in Deutschland. Um 3 Uhr morgens stand er auf und begann, einen Plan zu entwerfen. Mit diesem Plan sollten letztlich maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz (AI), Microsoft Teams und eine moderne Rekrutierungsstrategie Einzug in das Kinderhaus AtemReich finden.

Im gesamten nächsten Jahr traf sich das Team jeden Montagmorgen um 8 Uhr zu einem Projektmeeting.  „Wir legten das Meeting auf diese Uhrzeit am Montag, weil wir die Woche mit der wichtigsten Sache beginnen wollten: mit dem Kinderhaus AtemReich“, so Strasser. Hanne hatte keine Ahnung, dass sie am Ende eine engagierte Truppe aus 50 Freiwilligen und Partnern von Microsoft an ihrer Seite haben würde. Diese Menschen führten im vergangenen Jahr nicht nur die digitale Transformation im Kinderhaus AtemReich ein, sondern verbrachten auch ihre eigene Zeit in der Einrichtung rund acht Kilometer von der Münchner Microsoft-Niederlassung entfernt, wo sie vom Aufräumen des Kellers bis hin zu Arbeiten im Garten praktisch alles taten.

Die Technologielösungen, die eingesetzt werden, entsprechen „den Anforderungen von AtemReich, dem Ziel näherzukommen, mehr Zeit mit den Kindern und weniger mit Papierkram zu verbringen“, erklärt Hanne. „Das ist es, was mich am meisten berührt. Diese unglaubliche Kombination aus Empathie, Leidenschaft, Know-how und Zeit für unsere Kinder von Seiten der Teammitglieder von Microsoft und Partnern kann kaum in Worte gefasst werden, denn sie ist so großartig.“

Eine der entscheidenden Veränderungen im Kinderhaus AtemReich war der Wechsel von einem aufwändigen System aus oft manuellen medizinischen Aufzeichnungen, die nur die Vitalwerte eines Kindes vermerkten, hin zu einem System, das Daten (wie etwa Puls, Sauerstoff, Atemrhythmus, Blutdruck) aus den medizinischen Geräten des Kindes kompiliert und mithilfe von maschinellem Lernen, AI und IoT (Internet der Dinge) Daten und Analysen generiert.

Anhand dieser Daten und Analysen kann festgestellt werden, ob es sicherheitsrelevante oder medizinische Probleme oder Entwicklungen gibt, die angegangen werden sollten.

„Vorher übertrugen wir nur die Daten von den Monitoren auf Papier. Aber wir konnten die unglaublichen Mengen an Daten, die unseren Geräte lieferten, gar nicht auswerten oder vergleichen. Jetzt können wir Informationen auswerten und analysieren. Das gibt uns die Möglichkeit, Muster bei Kinder zu erkennen. Und wir können schneller reagieren als vorher“, Felicitas Hanne

Für Maxi, einen 13-Jährigen, der im Kinderhaus AtemReich lebt, seit er ein Baby war, erwies sich dies als ganz besonders wichtig. Maxi trägt ein Atemgerät und er kann weder sehen noch hören. „Er ist in seiner Kommunikation und Interaktion total eingeschränkt“, erklärt Hanne.

Maxi wurde zunehmend unruhig, verletzte sich selbst und trennte manchmal aus Frustration die Verbindung zwischen sich und seinem Atemgerät, was ein hohes Sicherheitsrisiko für ihn darstellte. „Es war schrecklich“, erinnert sich Hanne. „Wir konnten ihn nicht mehr halten, wir konnten nicht mehr zu ihm durchdringen.“

Der Versuch, herauszufinden, was das Problem war, war frustrierend. Aber sobald die Daten aus Maxis Medizingeräten erfasst und analysiert waren, erkannten seine Ärzte, dass er von einem seiner Medikamente etwas zu viel bekam, und sie verringerten die Dosierung.

„Seit damals hatte Maxi keine aggressiven Phasen mehr“, berichtet Hanne. „Es ist unglaublich, dass es plötzlich möglich ist, Daten auszuwerten und so Dinge und Muster zu erkennen und dadurch eine positive Veränderung für ein Kind zu bewirken.“

Kinderhaus AtemReich hat auch Microsoft Teams in seine täglichen Abläufe integriert. Der chatbasierte Arbeitsbereich sorgt für weniger Stress und verhindert Fehlkommunikation und auch fehlende Kommunikation unter den Mitarbeitern. Außerdem kann immer und überall darauf zugegriffen werden, denn er ist auch auf Mobilgeräten verfügbar. Bald wird es außerdem für jedes Kind individuelle Teams-Kanäle geben. So können die Mitarbeiter mit Personen außerhalb der Einrichtung kommunizieren, wie etwa Eltern, Ärzten, Physiotherapeuten und anderen, die für die Versorgung jedes Kindes von entscheidender Bedeutung sind.

„Das ist eine zentrale Stelle für alle“, erklärt Strasser. „Wenn ich eine Pflegekraft bin und etwas über ein Kind wissen möchte, gehe ich zu Teams und kann etwas fragen oder notieren: ‚Wenn ich von der Morgenschicht zur Abendschicht wechsle, muss ich etwas verschieben?‘ oder ‚Diese Informationen sind für heute wichtig‘. Und die Ärzte und Therapeuten können ihre Dokumentationen, alle wichtigen Dokumente für die Kinder, in Teams eingeben. Alles befindet sich an einem Ort, alles ist aktuell.“

Hanne berichtet, dass die tägliche „Flut an E-Mails“ durch Teams entscheidend reduziert wurde und dass die Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern jetzt freundlicher und lustiger ist – dank der Emoticons mit freundlichen Gesichtern und Bildern. So hat Hanne auch mehr Zeit, ihre Arbeit zu erledigen. Hierzu gehört auch das Besuchen der Kinder, was für sie von großer Bedeutung ist.

„Wenn ich zu den Kindern gehe und eines von ihnen mich sieht und zu mir rennt, dann macht mich das glücklich“, erzählt sie. „Zu erleben, wie diese Kinder, deren Lebenserwartung ursprünglich nicht über ihren ersten Geburtstag hinausging, die Sonne genießen und Ausflüge machen, gibt mir ein wunderbares Gefühl des Glücks. Dass ich es schaffen kann, diesen so besonderen Kindern Lebensqualität, Freude und ein positives Alltagsleben zu geben – ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“

Kinderhaus AtemReich erhielt auch eine Rundumerneuerung in Sachen Marketing, um mehr potenzielle neue Mitarbeiter anzuziehen. Hierzu gehören etwa Einstellungsvideos in den sozialen Medien mit Fokus auf die Kinder und die Mitarbeiter. Durch diese Bemühungen konnte fast die Hälfte der 20 freien Stellen der Einrichtung besetzt werden, wie Strasser berichtet.

Ebenfalls in Arbeit sind speziell für die Kinder im Kinderhaus AtemReich konzipierte Xbox-Spiele, etwas, das einige der Kinder mithilfe des Xbox Adaptive Controller spielen können.

Die meisten Spiele sind für die Kinder mental und körperlich zu schwierig. Daher setzte sich das Microsoft Xbox-Team in München mit Kinderhaus AtemReich-Mitarbeitern zusammen, um herauszufinden, was für die Kinder möglich war und was nicht. Geplant wurde die Entwicklung von Spielen, um kognitive Fähigkeiten zu unterstützen, sowie ein Setup mit dem Xbox Adaptive Controller, angepasst an die spezifischen Bedürfnisse der Kinder.

Inzwischen hofft Tamara Schaper, dass sie Bianca irgendwann mit nach Hause nehmen kann. Im Kinderhaus AtemReich hat sie vor Kurzem erstmals seit ihrer Geburt Bianca und Amelia einander vorgestellt.

„Die beiden Mädchen sahen sich an, weinten und waren sehr glücklich. Es ist nicht zu beschreiben, aber es war eine sehr berührende, emotionale Erfahrung. Amelia und Bianca hielten sich an den Händen und lächelten. Es war ein wunderbarer Tag für die beiden und auch für mich“, erzählt Schaper. „Als Bianca geboren wurde, war ich sehr verzweifelt und wusste nicht, wie ich mit der Krankheit meiner Tochter umgehen sollte. Das AtemReich hat mir geholfen zu erkennen, was für ein glückliches kleines Mädchen ich habe, trotz ihrer Krankheit. Es macht keinen Unterschied, wenn man als Erstes nur Schläuche oder medizinische Geräte sieht. Jedes Kind kann ein glückliches Kind sein.“

Titelbild: Jason spielt neben Krankenschwester Sabrina Leick im Kinderhaus AtemReich. Fotos mit freundlicher Genehmigung des Kinderhauses AtemReich.