Der Tag beginnt für Jörg Neumann sehr früh: Aufstehen um vier, den ersten Kaffee aus der aus Deutschland mitgebrachten Marsupilami-Tasse trinkt er um sechs. Danach bespricht er sich mit seinen Teams, die in der ganzen Welt verteilt sind. Jörg leitet das etwa 200 Köpfe zählende Team aus Entwickler*innen rund um den Microsoft Flight Simulator 2020, das weltweit am Release arbeitet – 14 Jahre nach der letzten Version. Wir haben ihn kurz vor dem Start der neuen Ausgabe via Microsoft Teams getroffen.
Gerade erst war Jörg zu Besuch bei seinen Eltern in Offenburg. Eigentlich wollte er schon im Frühjahr nach Hause an den Oberrhein fliegen, wegen Corona ging das aber nicht und auch dieser Besuch konnte nur virtuell stattfinden – mit dem Microsoft Flight Simulator 2020. Die Simulation ist so realistisch, dass er buchstäblich über sein Elternhaus fliegen kann – in einer fotorealistischen Landschaft, in Echtzeit und mit Live-Wetter. Er rief seine Eltern parallel zum Rundflug an und freute sich über den gemeinsamen Moment mit ihnen.
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Aus Gesprächen mit anderen Mitflieger*innen aus der ganzen Welt weiß Jörg, dass viele ihre Reise im Flugsimulator mit einem Flug über die eigene Stadt und das eigene Haus beginnen. Anschließend suchen sie nach weiteren vertrauten Referenzpunkten – dem letzten Urlaub, ihrer Schule, der Universität oder dem ersten Arbeitsplatz. Jörg selber erzählt davon, wie er im Flugsimulator Orte abfliegt, die er aus Spielfilmen kennt. „Neulich bin ich über Afrika geflogen und hab mir den Hügel angeschaut, an dem die letzte Szene von ‚Jenseits von Afrika‘ gedreht wurde. Dann habe ich noch den Berg aus ‚Blood Diamond‘ gefunden, so bereise ich gerade die (Film-)Welt.“ Das ist der Grund, warum Jörg als Chefentwickler des Flugsimulators auch nicht von einem Spiel spricht, sondern von einer Simulation.
Hyperrealistische Umgebung
Im Kern bietet der Flugsimulator seinen Nutzer*innen die Möglichkeit, am Steuerknüppel eines Flugzeugs Platz zu nehmen und die Maschine unter hyperrealistischen Bedingungen selbst zu fliegen. Um das so lebensnah wie möglich zu gestalten, haben die Entwickler*innen in Zusammenarbeit mit den Herstellern eine Vielzahl von Flugzeugen designt. Aber nicht nur das: Sie haben die Welt im Flugsimulator mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) bis ins kleinste Detail gestaltet. Auf Basis von Bing Maps und mit mehr als 37.000 Flughäfen, zwei Millionen Städten und 1,5 Milliarden Gebäuden, bei denen sie sogar den Schattenwurf je nach Tageszeit und Sonnenstand berechnet haben. Dazu kommen Berge, Straßen, Bäume, Gewässer.
Aber auch das ist noch nicht alles: Über die Einbindung von Echtzeit-Daten aus der realen Welt bietet der Flugsimulator auch noch Live-Wetter einschließlich genauer Windgeschwindigkeit und -richtung, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Regen und Lichteinfall. All diese Informationen machen den Flugsimulator zu einer umfassenden Sammlung von Daten, die aus ihm die wohl realistischste Simulation machen, die es bisher gab. Alles in allem ist der Flugsimulator rund zwei Petabyte Daten groß, das entspricht etwa 400.000 herkömmlichen DVDs.
Allerdings holt sich der Flugsimulator diese Daten nicht von unzähligen Silberscheiben, sondern in Echtzeit aus der Microsoft-Cloud Azure. Noch vor wenigen Jahren wären die zwei Petabyte eine unvorstellbar große Datenmenge für ein Spiel gewesen, doch im Flugsimulator und mit Unterstützung der Cloud ist das heute Realität.
Ein diverses Team
Für die Entwicklung des Flugsimulators arbeitet Jörg mit einem sehr diversen Team. Natürlich sind Programmierer*innen dabei sowie Screen- und UX-Designer*innen. Jörg hat aber auch Künstler*innen im Team, die zusammen mit KI-Spezialist*innen buchstäblich jeden Baum und Strauch so lange umdrehen, bis sie realistisch aussehen und am richtigen Fleck stehen. Dazu kommt ein Audio-Team, das sich um die anspruchsvollen Geräusche des Flugsimulators kümmert. Sie sind um die Welt gezogen und haben in vielen Flugzeugen Schalterbewegungen im Cockpit, aber auch das Hochfahren und den Betrieb der Triebwerke aufgenommen, um die Geräusche im Programm über eigene Geräuschsimulationen so realistisch wie möglich klingen zu lassen. Derweil haben sich die Programmierer*innen zum Beispiel über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren darum gekümmert, einen authentischen Bordcomputer zu programmieren. Mit diesem Wissen, sagt Jörg augenzwinkernd, könnten sie nun jederzeit bei Flugzeugherstellern selbst anfangen.
Eine E-Mail an Bill Gates
Auch Jörg ist, wenngleich er als Programmierer gearbeitet hat, kein Entwickler im klassischen Sinn: Zur Spieleentwicklung kam der heute 54-Jährige über Umwege, zu Microsoft am Ende allerdings sehr direkt. Aber der Reihe nach: In die USA ging Neumann ursprünglich, um seine Doktorarbeit zu schreiben. Zuvor hatte er unter anderem Biologie, Politik und Jura studiert. Daneben suchte sich der gebürtige Frankfurter in seiner neuen Heimat einen Job. Als großer Science-Fiction-Fan landete er bei Origin Systems, einer Firma, die weltbekannte Computerspiele produzierte, darunter die legendäre Serie Wing Commander. Nach der Übernahme von Origin durch Electronic Arts 1992 schloss sich Jörg seinen Origin-Kollegen Chris und Erin Roberts an, die ein eigenes Unternehmen gründeten, das sie Digital Anvil nannten und für das Microsoft als Publisher fungierte.
Vielleicht war es die Nähe zu Microsoft, vielleicht auch einfach eine Schnapsidee, jedenfalls entschloss sich das Digital Anvil-Team, eine E-Mail an Bill Gates zu schreiben. „Weil wir keine Ahnung hatten, wie wir ihn erreichen können, haben wir einfach an [email protected] geschrieben.“ Zu dieser Zeit, etwa 1996, war Microsoft mit eigenen Spielen kaum aktiv. Das hielt sie aber nicht davon ab, Bill Gates zu schreiben und ihm zu signalisieren: „Wenn ihr irgendwann mal mit Spieleentwicklern arbeiten wollt, wir sind hier in Austin.“
Bill Gates selbst meldete sich nicht zurück. Dafür aber sein Team: Am nächsten Tag kam ein Anruf, und innerhalb von sechs Monaten hatten sie einen Vertrag für zehn exklusive Spiele für Microsoft in der Tasche. Vier Jahre später wurde Digital Anvil Teil von Microsoft und seitdem entwickelt Jörg Spiele in Redmond.
Bei der Entwicklung des Flugsimulators startete Jörg mit einem leeren Blatt Papier: „Zuerst überlege ich mir, was ich eigentlich machen will. Ich denke darüber nach, was ich toll finde und was vielleicht auch andere interessieren könnte.“ Das schreibt oder malt er auf. Was nach Spielerei klingt, ist für Jörg aber bereits der erste Teil seiner Arbeit: „Gerade bei Spielen ist es sehr wichtig zu wissen, wen man damit unterhalten möchte.“ Im nächsten Schritt bezieht Jörg Künstler*innen in seine Arbeit mit ein. „Im Prinzip machen wir in diesem Projektstadium Concept Art“, also Illustrationen, die ein abstraktes Spielkonzept grafisch veranschaulichen sollen. Die zeigt er rum und in einem schrittweisen Prozess, der wie auf einer Wendeltreppe diverse Schleifen nach oben durchläuft, entwickelt er seine Idee im Austausch mit Grafiker*innen, Entwickler*innen und vielen anderen Stakeholdern weiter.
Wissenschaft im Praxiseinsatz
Zur konzeptionellen Phase gehört für Jörg aber auch die Arbeit nach wissenschaftlichen Methoden und mit Wissenschaftler*innen selbst. So testet er zum Beispiel einzelne Spielideen ausführlich in sogenannten User Research Labs nach wissenschaftlichen Kriterien. „So lernen wir zu verstehen, was die Menschen machen, wie sie ihre Hände benutzen, wohin sie schauen und wie sie emotional reagieren.“
Um den Realitätsgrad der Simulation noch weiter zu erhöhen, arbeitet Jörg auch mit einem der zahlreichen Max-Planck-Institute zusammen. „Die Wissenschaftler dort haben ein System entwickelt, das Tiere mit Tracking Devices verfolgt, so dass die Forscher jederzeit sehen können, wo sie sich aufhalten. Das können zum Beispiel Elefantenherden in der afrikanischen Savanne sein oder Wale in der Arktis. Das hätte ich gerne auch im Simulator.“ Die Vorstellung, dass beim Überflug arktischer Meere Wale ins Bild kommen könnten, die auch im richtigen Leben gerade genau an jener Stelle ein Bad nehmen, ist auf jeden Fall magisch.
Darüber hinaus kooperiert Jörg unter anderem auch mit Wissenschaftler*innen der Universität Graz, die alles über den Schattenwurf auf Hausdächern wissen. Sie sorgen dafür, dass die Sonne nicht einfach bloß einen zufälligen Schatten auf ein Dach werfen wird, sondern einen realistischen, mit künstlicher Intelligenz berechneten.
Realistischer als die Welt?
Mit diesen vielen Echtzeitdarstellungen und der unglaublich großen Datenbasis ist der Flugsimulator am Ende vielleicht sogar ein Stückchen realistischer als die Welt selbst. Klingt paradox? Jörg erzählt von einem Fotografen, der normalerweise Wochen braucht, bis er genau das Bild geschossen hat, dass er sich vor seinem inneren Auge ausmalt. Für das optimale Bild müssen die Bedingungen nämlich ganz genau stimmen: Er braucht das richtige Wetter, das richtige Licht und die passende Uhrzeit. „Und der sagte mir dann: ‚Ich habe das alles im Flugsimulator vorher nachgeschaut, der mir die Daten für das Bild in Echtzeit liefert. Es hat keine fünf Minuten gedauert, diese Bedingungen an einem Ort zu finden.“ Ein anderer Nutzer hat mit dem Flugsimulator per GPS-Tracking die Strecke seines letzten Marathons nachvollzogen und ein Flugvideo davon gemacht. „Für mich ist es richtig spannend zu sehen, was die Leute aus dem Simulator alles rausholen“, freut sich Jörg. Wir freuen uns ebenfalls schon auf den ersten Rundflug und überlegen, wohin er gehen könnte.
Mehr zum Microsoft Flight Simulator auf dem Xbox Wire DACH.
Ein Beitrag von Johanna Ronsdorf
Trainee Business Communications AI & Innovation / Data Applications & Infrastructure
und Markus Göbel
Senior Communications Manager Data Applications and Infrastructure