Digitale Souveränität für Deutschland in der Cloud: Mehr Abschottung bedeutet weniger Selbstbestimmung

Sabine Bendiek Microsoft Deutschland

Digitale Souveränität in der Cloud: Deutschland und Europa diskutieren über die Voraussetzungen für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Sabine Bendiek, Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland, sieht die Forderung nach dem Aufbau einer separierten europäischen Cloud kritisch – Abschottung könnte den Digital-Rückstand Europas sogar zementieren. Viel sinnvoller sind Investitionen in Künstliche Intelligenz, eine leistungsfähige digitale Infrastruktur sowie in Qualifizierung und digitale Kompetenz.

Als die Herrscher der europäischen Mächte 1648 den Westfälischen Frieden schlossen, beendeten sie damit den Dreißigjährigen Krieg und begründeten das Konzept der nationalen Souveränität. Sie teilten ein klares Verständnis davon, was Souveränität bedeuten soll: Jeder Staat hat die Hoheit über sein eigenes Territorium und seine inneren Angelegenheiten, in die andere Staaten sich nicht einzumischen haben. Fast 400 Jahre später steht die Idee als „digitale Souveränität“ wieder im Mittelpunkt zahlreicher Debatten – in einer Welt, die um ein Vielfaches unübersichtlicher geworden und von einem gemeinsamen Verständnis digitaler Souveränität weit entfernt ist.

Die Digitalisierung fordert den staatlichen Souveränitätsanspruch heraus wie wohl keine andere Entwicklung seit der modernen Globalisierung, dem Ausbau des Welthandels nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wo Daten und Informationen Grenzen in atemberaubender Geschwindigkeit überschreiten, geraten staatliche Hoheit und Kontrolle unter Druck.

Das zeigte sich bereits in den Kindertagen des Internets. Der Bürgerrechtler John Perry Barlow richtete sich schon 1996 in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ an die „Regierungen der industrialisierten Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl“. Er schrieb ihnen: „Ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Verstandes. Im Namen der Zukunft fordere ich euch auf, uns allein zu lassen. Ihr seid nicht willkommen. Ihr habt keine Souveränität dort, wo wir uns versammeln.“

Es ist legitim, dass Staaten einen solchen Schwund ihrer Hoheit nicht hinnehmen und nach digitaler Souveränität streben. Doch sie müssen an den richtigen Stellen ansetzen. Allzu oft orientieren sich Vorschläge an der bald 400 Jahre alten Idee, dass Souveränität anhand von Territorium und nationalen Grenzen definiert werden kann. Im Cloud-Zeitalter könnte dieser Weg problematischer kaum sein.

Der Kern der Cloud-Souveränität: Handlungsfreiheit statt nationaler Grenzen

Derzeit machen Forderungen nach einer deutschen oder europäischen Cloud die Runde. Telekom-Chef Timotheus Höttges etwa plädierte kürzlich für eine „komplette europäische Cloud-Infrastruktur mit Rechenzentren in verschiedenen europäischen Ländern und vor allem der dazu gehörenden Entwicklung europäischer Software.“ Diverse Ministerien und Behörden haben Papiere entwickelt oder Gremien eingesetzt. „Wir müssen uns mit den Fragen der Datensouveränität befassen“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel und erwartet im Herbst die Vorschläge der Daten-Ethikkommission dazu.

Dass Staaten nicht von ausländischen Staaten oder Konzernen abhängig sein möchten, ist ein absolut berechtigtes Interesse. Souveränität im klassischen Sinne bedeutet Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Zumindest daran hat sich bis heute kaum etwas geändert – Entscheidungs- und Handlungsfreiheit machen den Kern digitaler Souveränität aus. Doch in Zeiten globaler Datenströme bemessen sich diese eben nicht mehr an nationalen Grenzen, sondern an technologischen Kompetenzen: dem notwendigen Wissen für unabhängige Entscheidungen und den erforderlichen Fähigkeiten für selbstbestimmtes Handeln.

Konkret bedeutet das: Staaten müssen sicherstellen, dass Cloud-Anwendungen für Regierung, Parlament und Behörden dem Einfluss anderer Staaten oder Unternehmen entzogen sind. Sonst können externe Akteure die Entscheidungen eines Staates durch Manipulation von Daten beeinflussen – oder sein Handeln durch Abschaltung einer Cloud ganz lahmlegen. Der Handelskonflikt zwischen den USA und China hat gerade gezeigt, welche erheblichen Auswirkungen Exportverbote für Software haben können, wie schnell technologische Abhängigkeit in politischen Auseinandersetzungen zur Falle werden kann.

Souveränität ist mehr als nur Datensicherheit. Damit Deutschland und Europa im globalen Wettbewerb bestehen können, müssen sie digitale Technologien unabhängig beherrschen, eigenständig entwickeln und selbstbestimmt einsetzen können. Dafür brauchen sie zusätzlich eine leistungsfähige IT-Infrastruktur sowie die Beherrschung von Schlüsseltechnologien.

Die Förderung von Künstlicher Intelligenz (KI) etwa ist daher absolut sinnvoll. Europa braucht zudem eine große Qualifizierungsoffensive. Staaten wie Unternehmen suchen händeringend nach Digitalprofis. Aktuell fehlen alleine in Deutschland 60 000 IT-Fachkräfte, in den MINT-Berufen insgesamt sogar mehr als 300 000. Sie auszubilden und weiterzubilden ist eine gesellschaftliche Aufgabe, in die jetzt alle Kräfte fließen sollten. Microsoft beteiligt sich daran in einer großen Qualifizierungskampagne mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA).

Was Europa nicht hilft: eine eingezäunte Cloud.

Zehn Jahre Rückstand neu erfinden: Besser nicht

Es würde viel Zeit und jede Menge Geld kosten, eine eigenständige europäische Cloud komplett neu zu bauen. Also eine ausgereifte und frei verfügbare Technologie als vollständige Eigenentwicklung noch einmal zu programmieren – ohne dass damit gesichert wäre, dann mit den um Längen enteilten Technologieführern mithalten zu können. Die weltweit führenden Cloud-Anbieter haben in mehr als zehn Jahren einen gewaltigen Vorsprung entwickelt.

Europa hätte zweifelsohne die Finanzkraft, eine eigene Cloud aufzubauen. Doch es wäre eine Mammutaufgabe, die unzählige Entwickler und Milliardeninvestitionen binden würde. Hinzu kämen die Schwierigkeiten in einem föderalen System, eine Abstimmung unter den vielen beteiligten Partnern mit ihren unterschiedlichen Interessen zu erzielen. Das Projekt würde Jahre dauern, Geld und Personal dafür an anderer Stelle fehlen. Denn die Herausforderungen der Digitalisierung sind so vielfältig wie immens: von KI über 5G und Quantencomputer bis Kryptografie.

Es wäre daher alles andere als sinnvoll, wertvolle Zeit und Energie darauf zu verwenden, die Cloud-Entwicklungen der letzten zehn Jahre nach zu programmieren. Souveränität, darauf verweist auch Bitkom, bedeutet mitnichten, alles selbst zu machen.

Der beste Treiber für Innovation ist freier Wettbewerb – die beste Lösung setzt sich durch. Die Konkurrenz am Markt treibt Cloud-Anbieter zu Weiterentwicklungen in Sachen Sicherheit, Leistungsfähigkeit und Tool-Angebot. Eine abgeschottete europäische Cloud stünde nicht in diesem Wettbewerb. Das birgt das Risiko technologischer Rückstände. Sicherheitsdefizite würden den Souveränitätsanspruch konterkarieren, Leistungsdefizite den europäischen Rückstand bei der Digitalisierung zementieren.

Mit der Microsoft Cloud Deutschland haben auch wir bereits eine „deutsche“ Cloud angeboten. Interessanterweise sah die Wirtschaft die nationale Abgrenzung jedoch kritisch: Der Preis einer abgeschotteten Cloud ist, dass die Unterstützung international aufgestellter Unternehmen weit schwieriger wird.

Deutsche Unternehmen haben längst in den Cloud-Modus geschaltet: 73 Prozent der Unternehmen nutzen bereits Cloud-Lösungen, weitere 19 Prozent bereiten sie vor – und nur für acht Prozent ist die Cloud kein Thema, zeigt der aktuelle Cloud-Monitor von Bitkom und KPMG. Cloud-Services haben ein gewaltiges Marktpotenzial: Weltweit werden die Umsätze laut Gartner in den nächsten drei Jahren auf knapp 300 Milliarden Euro steigen.

So kommt der Staat am schnellsten auf die digitale Überholspur

Verwaltungen müssen schleunigst eigene Cloud-Kompetenzen aufbauen, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. Schaffen sie den Anschluss nicht, drohen auf Dauer Nachteile für den Standort Deutschland. Verwaltungen eines Staates haben selbstverständlich nicht dieselben Anforderungen an globale Verfügbarkeit wie weltweit tätige Konzerne. Doch auch sie benötigen die technologisch besten und sichersten Lösungen – je schneller, desto besser.

Die EU-Kommission rügte gerade, dass die deutsche Verwaltung bei der Digitalisierung weit hinterherhinkt. Sinnvoller als eine separierte europäische Cloud aufzubauen ist es daher, auf die global technologisch führenden Lösungen zurückzugreifen und sie so anzupassen, dass sie dem Zugriff fremder Staaten und Unternehmen entzogen sind. So kommen Verwaltungen am schnellsten auf die digitale Überholspur.

Technisch ist es möglich, Cloud-Infrastrukturen autark zu gestalten – also so, dass der Betreiber erstens keinen Zugriff auf die Daten in der Cloud hat und zweitens die Plattform selbst unabhängig läuft. Sie kann nicht von außen ‚abgeschaltet‘ werden.

Entwickler können die vorhandenen, technologisch besten Plattformen nutzen, um von diesem Punkt aus, eigene Wege zu beschreiten. Dafür ergeben dann auch europäische Kooperationen Sinn. Die Chance für Deutschland und Europa liegt nicht etwa in der Abschottung, sondern in der Gestaltungsfreiheit.

Dieser Artikel ist zuerst in gekürzter Fassung als Gastbeitrag im Handelsblatt erschienen.


Ein Beitrag von Sabine Bendiek
Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland

Portraitfoto von Sabine Bendiek

 

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