Rettung des Veltliner, Traube für Traube: Nachhaltige Frostbekämpfung mit der Microsoft Cloud
Rudi Hofmann arbeitete jahrelang im Weingroßhandel, bevor er den Entschluss fasste, seinen Traum vom eigenen Weinberg und einem dazugehörigen Weingut zu verwirklichen. Vor ungefähr 20 Jahren gründete er das BioWeingut Hofmann und begann auf den steilen, terrassierten Osthängen entlang des Flusses Traisen in Ostösterreich mit dem Weinbau, auf einer Fläche von insgesamt 15 Hektar. Die Region verdankt ihren Ruf vor allem der Rebsorte „Grüner Veltliner“, einer Weißweintraube, die für ihren fruchtigen und vollmundigen Geschmack bekannt ist.
Während ein Gläschen Wein oftmals verdiente Entspannung nach einem langen Tag verspricht, ist der vorangehende Weinbau alles andere als entspannt. Er ist mit langen Arbeitszeiten, harter körperlicher Arbeit, ständiger Beobachtung des Wetters und der Bekämpfung von Problemen wie Schädlingen, Mehltau und Pilzen verbunden. In den letzten Jahren ist aufgrund des Klimawandels noch eine neue Bedrohung hinzugekommen: Der Spätfrost.
„Frost an sich war schon immer ein Problem.“, so Rudi Hofmann.
„Wenn sich die Reben in einem frühen Stadium befinden und es Frost gibt, gehen nur einige Reb Knospen verloren, aber nicht die ganze Ernte. Aufgrund des Klimawandels beginnt die Vegetation jetzt jedoch früher. Wenn es dann im Frühjahr Frost gibt und die Trauben bereits blühen – dann kann man alles verlieren.“
Im Jahr 2017 kosteten Spätfrostschäden den österreichischen Wein- und Obstbau geschätzt 70 Millionen Euro. Um zu sehen, ob Technologie bei diesem Problem helfen könnte, haben die Europäische Innovationspartnerschaft für Produktivität und Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft (EIP-AGRI), die Beiträge zur Strategie der Europäischen Union für nachhaltiges Wachstum leisten soll, und das österreichische Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus eine Arbeitsgruppe mit dem Namen ARGE FrostStrat gegründet. Zu den Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe gehören Regierungs-, Bildungs- und Forschungsorganisationen, Technologieunternehmen und Landwirt*innen, unter ihnen auch Rudi Hofmann.
Das Ergebnis: Ein Pilotprojekt, das Sensoren in risikobehafteten Gebieten von Weinbergen und Obstgärten platziert, um Informationen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Topografie aufzuzeichnen. Die Daten werden an die Microsoft Cloud gesendet und liefern – in Verbindung mit Wettervorhersagemodellen und Machine Learning in Microsoft Azure – den Landwirt*innen detaillierte 48-Stunden-Vorhersagen über die genaue Zeit, in der Spätfrost für ihre Anbauflächen erwartet wird. Das gibt Landwirt*innen die Möglichkeit, ihre Weinbau-, Obstbau- und landwirtschaftlichen Flächen vor Spätfrösten zu schützen.
Die Vorankündigung ist wichtig, da es Zeit, Mühe und Geld kostet, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und es mehrere Möglichkeiten der Ausführung gibt. Sie reichen vom Einsatz von Hubschraubern, die über den Feldern schweben und mit ihren Rotorblättern warme Luft auf den Boden drücken, um die Temperatur zu erhöhen, bis hin zum Einsatz von so genannten “Frostkerzen” – großen Paraffinkerzen, die um die Pflanzen herum aufgestellt werden, um die Temperatur zu erhöhen. Nicht jede/r Winzer*in, Obstbauer/bäuerin oder Landwirt*in kann sich jedoch Hubschrauber leisten. Und auch die Verwendung von Frostkerzen kann teuer sein.
„Ein Ziel des Projekts besteht darin, nicht nur die Daten zu messen und die Daten den Erzeugern zur Verfügung zu stellen, sondern auch die verschiedenen Präventionsstrategien wie Kerzen, Hubschrauber oder Sprinkleranlagen zu vergleichen – wie viel sie kosten und welche das beste Ergebnis zeigen werden“, erklärt Johannes Strassmayr, Senior Consultant bei TietoEVRY, einem globalen Anbieter für digitale Dienste und Software, welcher das Frühwarnsystem entwickelt hat.
Rudi Hofmann ist an diesen Informationen ebenfalls äußerst interessiert. Sein Weingut produziert ungefähr 100.000 Flaschen im Jahr – „Was in Österreich als mittelgroßes Weingut gilt“, erklärt er. „Auf globaler Ebene ist es jedoch ein sehr kleines Weingut.“ Dennoch sind die Kosten hoch. Der Einsatz von Paraffinkerzen kostet rund 1.000 Euro pro Stunde und Hektar. „Wenn Sie also im Voraus wissen, dass Sie den Einsatz beispielsweise um eine Stunde verzögern können, ist dies eine erhebliche Einsparung“, sagt er. Spätfrost kam früher nur gelegentlich vor, sagt Rudi Hofmann, aber in seiner Region ist er die letzten sieben Jahre in Folge aufgetreten. „In Verbindung mit dem früheren Vegetationsbeginn nimmt das Risiko von Schäden weiter zu“, sagt er.
Christian Hofmann, Rudis Bruder, erzählt, dass die Landwirt*innen bei Frost früher mitten in der Nacht „wie Verrückte durch ihre Weinberge fuhren, um die Temperaturen manuell zu messen und zu entscheiden, wann und wo sie die Heizung aktivieren“. Dies sei nicht der effizienteste Weg, erklärt das Mitglied der Arbeitsgruppe ARGE FrostStrat.
„Einer der Landwirte erzählte, er sei 1.000 Kilometer pro Woche in einem sehr kleinen Gebiet unterwegs gewesen, im Grunde genommen die ganze Nacht, um an verschiedenen Stellen die Temperatur zu messen, um zu wissen, in welchen Bereichen es erste Anzeichen für Frost gibt“, erklärt Christian Hofmann. Mit dem FrostStrat-Dienst können Landwirt*innen ihre Anbauflächen jetzt aus der Ferne überwachen. „Ich sage immer: Was wäre, wenn Sie Ihre Weinberge zu Hause von Ihrem Smartphone aus überwachen könnten? Wenn alles in Ordnung ist, schlafen Sie einfach weiter oder trinken ein gutes Glas Wein mit Freunden? Das ist die Art von Geschichte hinter der Entstehung dieses Projekts.“
„Das System liefert nicht nur Echtzeit- und Prognosedaten für alle Sensorstandorte, sondern sendet auch Text- oder E-Mail-Benachrichtigungen an die Smartphones von Winzern, Obstbauern und Landwirten“, erklärt Johannes Strassmayr.
Die Erderwärmung betrifft nicht nur den Weinbau, sondern beispielsweise auch die Marillen-, Apfel- und Pfirsichplantagen in Österreich. Da sich die Knospen früher in der Saison öffnen, sind die Ernten anfälliger für die Auswirkungen von Spätfrösten geworden.
Das Problem ist nicht spezifisch für Österreich, das zu den wichtigsten 10 Weinerzeugerländern in Europa gehört. In diesem Jahr ging die Weinerzeugung in Frankreich (Nr. 1 in Europa und eines der wichtigsten Erzeugerländer weltweit) um 29 Prozent zurück. Dies ist ein historischer Tiefststand, woran der Spätfrost „einen großen Anteil hatte“, so der statistische Dienst des französischen Landwirtschaftsministeriums im September.
Der Initiative World Weather Attribution zufolge steigerte der vom Menschen verursachte Klimawandel die Wahrscheinlichkeit von Spätfrösten in Frankreich um etwa 60 %. Nach einer Veröffentlichung in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) in den USA könnten die weltweit für den Weinanbau geeigneten Regionen um bis zu 56 Prozent reduziert werden, wenn die Temperaturen wie erwartet um 2 Grad Celsius steigen.
„In gewisser Weise ist der Wein der Kanarienvogel im Kohlenstollen, was die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft betrifft, da Reben äußerst klimaempfindlich sind“, erklärt eine/r der Autor*innen der PNAS-Studie aus dem Jahr 2020.
TietoEVRY mit Hauptsitz in Finnland hat das Überwachungssystem im September 2019 eingeführt. Das Pilotprojekt endet im September 2022, wenn alle Daten ausgewertet sein werden.
„Wir haben eine Sammlung von Clouddiensten in Azure eingerichtet, die wir als Accelerator-Plattform bezeichnen. So können wir problemlos neue Anwendungsfälle von Kunden auch außerhalb der Landwirtschaft integrieren“, erklärt Johannes Strassmayr. „Es spielt keine Rolle, ob sich die Sensoren irgendwo im Freien auf einem Feld, irgendwo auf einer Baustelle oder an einem Produktionsstandort befinden. Die Verarbeitung ist grundsätzlich stets die gleiche. Der Umfang unterscheidet sich natürlich. In diesem Anwendungsfall setzen wir zurzeit 300 Sensoren auf Anbauflächen in Österreich ein. Im Fall eines Produktionszentrums kann es sich jedoch um Tausende von Sensoren an Hunderten von Orten weltweit handeln.“
TietoEVRY Austria hat ein ähnliches System für zwei große österreichische Unternehmen eingerichtet, die Materialien für die Bauindustrie liefern und zusammen über mehr als 200 Produktionsstandorte und 3.200 Produktionslinien verfügen. Das System hilft diesen Unternehmen, die Effizienz durch die Messung von Produktionsdaten insgesamt zu steigern.
Das ARGE FrostStrat-Projekt „ist ein einzelner Anwendungsfall für eine bestimmte landwirtschaftliche Region, aber es gibt Tausende von Anwendungsfällen, in denen wir das Leben von Menschen mit Lösungen dieser Art vereinfachen können“, sagt Robert Kaup, Geschäftsführer von TietoEVRY Austria.
„Das Feedback der teilnehmenden Winzer, Obstbauern und Landwirte zeigt uns, wie wertvoll ein digitales Frühwarnsystem, intelligente Messungen und kleinräumige Prognosen sind.“
„Die digitale Transformation entwickelt sich auch in konservativen Branchen wie der Landwirtschaft schnell weiter“, erklärt Jutta Grabenhofer, Sustainability Lead bei Microsoft Österreich, die zusammen mit TietoEVRY am Pilotprojekt arbeitet. „Auch wenn häufig angenommen wird, dass nur große Unternehmen von digitalen Technologien profitieren können, zeigt dieser Anwendungsfall, dass auch kleinere Unternehmen IoT und Datenanalytik nutzen können, um die Effizienz zu steigern.“
Christian Hofmann bemerkt, dass Überwachungsprogramme wie das der Arbeitsgruppe ARGE FrostStrat auch dazu beitragen können, die zukünftige Nutzung landwirtschaftlicher Flächen – einer endlichen Ressource – zu gestalten.
„Es gibt langfristige Entscheidungen zu Dingen wie der Nutzung von Land, die in der Vergangenheit auf der Grundlage einer Intuition oder eines Bauchgefühls entschieden wurden, oder weil es schon immer so war“, sagt er. „Das hat zu einem übermäßigen Gebrauch von Bewässerung, Beheizung und Infrastruktur geführt – weil wir diese Entscheidungen nicht faktenbasiert treffen. Und der Klimawandel greift in einem Tempo um sich, dass der größte Teil der ‚alten Weisheiten‘ nicht mehr relevant ist. Die Daten, die wir hier sammeln, helfen, die Emotionen aus den Entscheidungen zu entfernen, was immer schwierig ist. Es ist eine zweite Perspektive, die nicht unterschätzt werden sollte.“
Rudi Hofmann stimmt zu. Als Bio-Winzer möchte er mit seinem Weingut seinen Traum weiter verwirklichen, aber auf eine intelligentere und nachhaltigere Art.
„In der Zukunft werden wir viel mehr Daten zu unseren Weinbergen haben und können nachhaltigere Ernten als im letzten Jahrhundert erzielen“, sagt er. „Wir müssen die richtigen Pflanzen an der richtigen Stelle anbauen. Anschließend müssen wir sie überwachen und im richtigen Moment Maßnahmen ergreifen, die sich möglichst wenig auf die Umwelt auswirken.“
Titelbild: Rudi Hofmann