Begrenzte IT-Expertise und Ressourcen, Fachkräftemangel: Die Digitalisierung stellt kleine und mittelständische Unternehmen vor Herausforderungen. Low-Code- und No-Code-Technologien treten an, dieses Dilemma zu lösen. Sie befähigen alle Arbeitskräfte mit Domänenwissen, eigene Anwendungen zu erstellen – ohne große IT-Abteilung dahinter.
Mehr als acht von zehn Unternehmen (84 Prozent) gaben in einer Befragung des Branchenverbandes Bitkom an, dass die Digitalisierung für das eigene Unternehmen in den Monaten der Pandemie an Bedeutung gewann. Allerdings hat das auch dazu geführt, dass die Unternehmen den Stand ihrer eigenen Digitalisierung deutlich kritischer einschätzen als vorher. Nur noch rund ein Viertel (27 Prozent) sehen sich selbst als digitale Vorreiter. Viele Projekte mussten in der Pandemie verschoben oder auf Eis gelegt werden, weil bei vielen Unternehmen plötzlich Existenzfragen in den Vordergrund rückten. Neben den akuten Pandemie-Problemen bleiben die chronischen Herausforderungen ungelöst: fehlende Expertise, zu wenig Mittel und der anhaltende Mangel an Fachkräften. Auf der anderen Seite wächst der Druck auf Unternehmen aller Branchen und Größen, maßgeschneiderte Microservices und Anwendungen viel stärker als bisher produktiv entlang der gesamten Wertschöpfungskette einzusetzen.
Mehr als Schlagworte
Cloud Computing, Big Data, künstliche Intelligenz (KI), Industrial IoT und Edge Computing sind nicht nur Buzzwords der IT-Industrie, sondern Themen, mit denen sich Unternehmen aktiv auseinandersetzen, um im weltweiten Wettbewerb mitzuhalten. In den kommenden fünf Jahren wird es 500 Millionen neue Apps geben, heißt es in einem Microsoft-Whitepaper über Low-Code-Programmierung. Das ist mehr, als in den vergangenen 40 Jahren entwickelt wurde. Viele dieser Anwendungen werden spezielle Aufgaben abbilden, die kaum durch Standardsoftware zu bedienen sind. Sie werden in einzelnen Abteilungen oder Unternehmensbereichen dazu beitragen, Daten nutzbar zu machen, Wartungszyklen zu optimieren oder neue Geschäftsmodelle zu etablieren. Das heißt: Bei den meisten Apps wird es sich um Microservices mit eng umrissenen Aufgabengebieten handeln, die oft kurzlebig sind und nur in den Unternehmen selbst entstehen können, weil sie keine kritische Masse für große Anwendergruppen erreichen.
Programmieren ohne Coding-Kenntnisse
Um den Widerspruch zwischen dem Mangel an Fachkräften und kleinen Budgets sowie der wachsenden Nachfrage nach neuen Softwarelösungen aufzuheben, braucht es moderne Methoden: Low Code, No Code oder auch die KI-Sprachtechnologie GPT-3 sind drei dieser Techniken, die das Entwickeln von Software beschleunigen sowie günstiger und effizienter gestalten. Um solche Ansätze gewinnbringend einzuführen, müssen sich viele Unternehmen verändern. Sie brauchen technologische Reife und die Bereitschaft, sich auf Technologien wie Cloud Computing, künstliche Intelligenz und IoT einzulassen. Denn diese Digitalwerkzeuge helfen dabei, geschäftliche Anforderungen schneller zu erfüllen: durch automatisierte Workflows, vorgefertigte UX-Komponenten, vortrainierte KI-Funktionen, Programmieren per Drag&Drop oder per Eingabe durch natürliche Sprache wie bei GPT-3. Low-Code- und No-Code-Methoden verringern die Entwicklungskosten deutlich.
Eine Forrester-Untersuchung zeigt beispielsweise, dass Microsoft Power Apps die durchschnittlichen Kosten für die App-Entwicklung um 74 Prozent reduzieren. Low Code und No Code können außerdem durch ihre Integration in vorhandene Software- und Cloud-Umgebungen sowie bestehende IT-Infrastrukturen punkten. Für Microsoft sind diese Ansätze und der Einsatz für die natürliche Sprachumgebung GPT-3 nicht nur technologische Lösungen. Sie zeigen vielmehr in der Praxis, was die Mission des Unternehmens bedeutet: ‚To empower every person and every organization on the planet to achieve more.‘
No-Code-Robotik und No-Code-AI bei BMW
Wie das in der Praxis gehen kann, zeigt etwa der Automobilhersteller BMW. In einer Fertigungslinie in Dingolfing setzt er mit Unterstützung des Dresdner IIoT-Spezialisten Robotron und des ebenfalls aus Dresden stammenden Unternehmens Wandelbots auf deren No-Code-Plattformen für Industrial Computer Vision und Roboter-Teaching. Die Einführung der Plattform ist die Antwort auf die Herausforderung, den regelmäßigen Austausch einzelner Komponenten in der Fahrzeugfertigung und die damit verbundenen Anpassungen in der Qualitätskontrolle schneller und einfacher zu gestalten.
Normalerweise sind die Roboter in der industriellen Fertigung nicht zuerst auf Flexibilität ausgelegt, sondern eher darauf, immer wieder dieselben präzisen Bewegungen zuverlässig auszuführen. Für die Produktion sind sie damit aber immer häufiger zu unflexibel, denn nicht nur der Fahrzeugbau verlangt heute mehr und mehr nach individuellen Lösungen. Die No-Code-Softwareplattform von Wandelbots erfasst zum Beispiel über das handgeführte Eingabegerät TracePen einen gezeichneten Pfad, der die neuen Bewegungen des Roboters abbildet, visualisiert ihn für die weitere Anpassung in einer iPad-App und kann damit Präzision im Submillimeterbereich erreichen. Dieser Pfad wird anschließend im Hintergrund und ohne Codierung in die Programmiersprache des jeweiligen Roboters übersetzt und an dessen Controller übertragen. Und weil gerade große Unternehmen auf komplexe Zertifizierungsrichtlinien für ihren Code angewiesen sind, ermöglicht die Plattform auch die Definition von unternehmensspezifischer Codegenerierung.
Außerdem sind die Arme des Roboters für die automatisierte Qualitätskontrolle mit einer Kamera ausgestattet, die mit Unterstützung von KI-Modellen prüft, ob die gefertigten Bauteile den Qualitätssicherungsstandards entsprechen. Für die Erstellung dieser KI-Modelle sind die Roboter an die Softwareplattform für Realtime Computer Vision (RCV) des Digitalisierungsspezialisten Robotron Datenbank-Software GmbH angeschlossen. Robotron automatisiert die Ermittlung relevanter Informationen und den RCV-Workflow über Microsoft Azure MLOps (Machine Learning Operations).
Zwei positive Effekte
Die Umstellung auf das lernfähige No-Code-System verringert die Zeit vollautomatisierter robotergeführter Qualitätsprüfungen drastisch: Heute wird bis zu 15-mal weniger Zeit gebraucht. Zudem liegt das so generierte Wissen in einer generalisierten und kommunizierbaren Form vor, so dass die Modelle über die Cloud weltweit kollaborativ genutzt werden können.
KI-Use Case in einer Stunde
Datenbasierte Services sorgen mit steigender Tendenz für Differenzierung am Markt. Je stärker aber Daten in den Mittelpunkt rücken, desto wichtiger werden ihre unkomplizierte Analysen – im Idealfall durch die Leute mit Domänenwissen, aber ohne Programmierkenntnisse. Die Weidmüller Gruppe aus dem westfälischen Detmold hat sich mit ihrer AutoML-Lösung genau dieses Ziel gesetzt, um maschinelles Lernen (ML) in der Industrie breiter zu etablieren. Weidmüller hat die eigene Anwendung für das maschinelle Anlernen von Algorithmen so vereinfacht, dass Arbeitskräfte mit Domänenwissen ohne Hilfe von IT- oder Daten-Fachleuten KI-Lösungen eigenständig realisieren können. Diese Fachleute können in weniger als einer Stunde ein erstes Machine-Learning-Modell für ihren Use Case erstellen und auf der Maschine ausführen. Speziell für KI ausgebildete Data Scientists hatten früher für dieselbe Aufgabe mehrere Wochen bis Monate im Rahmen von speziellen Projekten gebraucht.
Technik demokratisieren
Grundlage solcher Modelle ist eine von Weidmüller entwickelte automatisierte Machine-Learning-Lösung, Industrial AutoML, die für Anwendungsfälle wie Anomalie-Erkennung, Klassifizierung und kontextbezogene Entscheidungsfindung trainiert werden kann. Weidmüller nutzt dafür eine Kombination von Services aus der Microsoft-Cloud, um Daten von jedem Ort zu sammeln, zu integrieren und zu speichern – und vor allem aber, um sie sicher in der Cloud verarbeiten zu können.
Bei der Erstellung von KI- und ML-basierten Modellen führt die Weidmüller-Software über sogenannte Guided Analytics durch den Prozess, fragt Domänenwissen ab und übersetzt es in eine Machine-Learning-Anwendung. So entsteht in der Kombination von ML und Fachwissen ein qualitativ hoch angereicherter Datensatz, auf dem das Training, die Optimierung und die Validierung alternativer ML-Modelle automatisch erfolgen. Für den Start reichen normalerweise schon wenige Megabytes an Trainingsdaten, um zumindest den Use Case eines KI-Modells zu evaluieren. Wieviel Daten insgesamt für das Training der Algorithmen notwendig sind, hängt von vielen unterschiedlichen und individuellen Faktoren ab, etwa von der Abstraktheit der Daten und der Häufigkeit der Anomalien.
Entwicklung braucht Strategie und Struktur
Auch wenn die Low-Code- und No-Code-Ansätze heute schon weit entwickelt sind: Unternehmen brauchen für ihre Digitalisierungsbemühungen immer noch ihr tiefgehendes Spezialwissen aus den eigenen Prozessen und Kundenbeziehungen. Doch wenn sich dieses Domänenwissen durch einfach zu entwickelnde Software abbilden lässt, bekommen Unternehmen neue Möglichkeiten für die Suche nach Digitalisierungsexperten: Dann nämlich sind diese Fachleute bereits im Unternehmen aktiv, und sie kennen sich sehr gut aus. Der Rest ergibt sich durch die Werkzeuge und Plattformen, die das Coden übernehmen. Eines sollte dabei nicht vergessen werden: Auch die Software-Entwicklung ohne Code oder mit ganz wenig Programmierung braucht Strukturen, Strategien und Methoden, die mit ihren Buzzwords wie Scrum, Agilität oder Design Thinking hier nur erwähnt werden können. Darüber sollte – bei aller Freude über den einfachen Einstieg – auch bei jedem Unternehmen ausreichend Klarheit bestehen.
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Ein Beitrag von Thorsten Cleve
Director Manufacturing, Chemicals & Lifescience