In unserer Reihe „Zukunft gestalten mit“ stellen wir euch interessante Persönlichkeiten vor, die an Zukunftstechnologien und -visionen arbeiten. Damit unsere Zukunft innovativ und digital bleibt, benötigt es Personen wie den Chief Digital Officer von Ottobock, Güngör Kara, der an digitalen Lösungen arbeitet, um Menschen ihre Mobilität zurückzugeben.
Güngör Kara hat selbst miterlebt, was es bedeutet, wenn ein Mensch seine Mobilität verliert und durch gute Versorgung wieder ins Leben findet. Seine Mutter trägt seit über 15 Jahren eine Unterschenkelprothese. Heute ist er Chief Digital Officer im digitalen Innovationsbereich bei Ottobock, einem deutschen Hersteller für Prothesen, Orthesen, Rollstühle und andere Medizintechnik. Güngör konzentriert sich vor allem auf die Entwicklung von Plattformen, auf additive Fertigung und digitale Versorgungsprozesse. Ottobock verfolgt dabei das Ziel, den orthopädischen Prozess zu vereinfachen und detailgenaue, individuellen Lösungen bereitzustellen. „Das ist einfach und komplex zugleich“, erklärt Güngör. „Jedes Glied in der digitalen Kette muss nahtlos verbunden sein. Wir kombinieren Hardware, also Scanner, 3D-Drucker und Prothesen, mit Software, das heißt primär Cloud-Anbindungen sowie UX und I.“ Daraus ist vor zwei Jahren eine smarte Teleprothetik-App entstanden, die Orthopädietechniker*innen über die Microsoft Cloud mit den Nutzer*innen verbindet.
Individuelle Lösungen dank Software
Ottobocks „Cockpit Connect“-App hat die Versorgung auch während der Pandemie sichergestellt, aber hier endet die Arbeit von Güngör nicht. „Nach der Implementierung unserer Produktinnovationen ist es wichtig, diese zu einer Plattformlösungskette zusammenzufügen und international auszurollen. Mit einzelnen Digital-Teams bereite ich gerade die nächste Evolutionsstufe unserer ganzheitlichen Versorgungsplattform in den USA vor“, sagt er. Güngör hat festgestellt, dass ein guter Mix aus langfristigen Entwicklungen und kurzen digitalen Innovations-Sprints gut funktioniert. Viele Produktideen setzt Ottobock darum mit seinen internen Start-ups um, die stark nutzungszentriert denken. „Es geht uns vor allem um die digitale Lösung von Vorgängen, die aktuell noch sehr analog sind“, erklärt Güngör. „Die Erfahrung zeigt, dass kleine Teams in Start-Ups mit einer guten Mischung aus unterschiedlichen Digitalexpert*innen und Orthopädietechniker*innen agil und effektiv arbeiten – das geht besonders schnell und kreativ.“
Mit digitalen Lösungen können Prothesen gut an die Träger*innen angepasst werden. Eine digitale Ganganalyse hilft etwa bei der optimalen Einstellung an das individuelle Gangbild, um Risiken von Folgeschäden zu minimieren. Auch Prothesenschäfte können mit einem digitalen Scan des Stumpfes, der Bearbeitung mit einer Software für Orthopädietechniker*innen und additiver Fertigung präzise angepasst werden. Ein gut sitzender Schaft ist wichtig, da er als Verbindung zwischen Stumpf und Prothese dafür sorgt, überhaupt schmerzfrei und ohne Druckstellen mit der Prothese gehen zu können. Selbst bei jahrzehntelanger Erfahrung kann es bei der händischen Gipsabnahme des Stumpfes zu Fehlern kommen. Ottobock hat diesen Prozess digitalisiert und erzeugt mithilfe von Microsoft Azure einen digitalen Zwilling des Anwenders und des Stumpfes, der im gesamten Versorgungsprozess genutzt werden kann. „Er ist verlässlich – es gibt keine Abweichungen, egal, wo und von wem die Erfassung mit dem Scanner und der Software durchgeführt wird.“ Güngör weist auf einen weiteren Vorteil hin, der daraus entsteht: „Dabei werden auch große Mengen traditioneller Fertigungsmaterialien eingespart, da die ersten Versuche eines 3D-gedruckten Schaftes in der Regel bereits perfekt passen.“
3D-Druck, Big Data und Low Code in der Medizintechnik
Durch die digitalen und technischen Fortschritte der letzten Jahre haben sich immer mehr Möglichkeiten in der Medizintechnik eröffnet. Zum Beispiel können Nutzer*innen bei der KI-basierten Handprothese von Ottobock eine App nutzen, um die Mustererkennung zu trainieren. Dabei werden Muskelsignale am Unterarm in myoelektrische Signale umgewandelt, die in der Prothesenhand in eine Bewegung übersetzt werden. Die App lernt dann die individuellen Bewegungsmuster, die allmählich sicherer und natürlicher werden. „3D-Druck und die Azure-Cloud erlauben es außerdem, kostengünstige und unbegrenzte Komplexität zu ermöglichen“, sagt Güngör.
Ottobock geht dabei konsequent den Weg von Big Data, Smart Data und Value Data – das bedeutet, dass durch künstliche Intelligenz und Machine Learning nicht nur die Nutzer*innen profitieren, sondern auch Produkte datenbasiert optimiert werden können. Auch Low-Code-Anwendungen, bionische Design-Software sowie Augmented- und Mixed-Reality-Technologien kommen bei dem Hersteller zum Einsatz. „Dadurch kommen unsere Teammitglieder auf immer neue Ideen und spannende Lösungsmöglichkeiten“, erklärt Güngör. „Wir verbinden zum Beispiel unsere biomechanische Gangexpertise mit künstlicher Intelligenz, smarter Sensorik und Low-Code Frontend-Entwicklungen zu einer neuartigen Produktlösung.“ Nicht nur Prothesen werden durch solche Synergien verbessert, sondern auch Orthesen. Ottobocks „C-Brace“-Orthese ist beispielsweise mit einem Mikroprozessor ausgestattet, der durch datenbasierte Entwicklung dabei hilft, dass Menschen mit Lähmungen wieder gehen können – zum Beispiel nach einer inkompletten Querschnittslähmung.
„Ein großes Forschungsziel von uns ist es, die Akzeptanz der Prothese als Teil des Körpers weiter voranzutreiben“, sagt Güngör. „Technologisch könnte man das etwa mit fühlenden Prothesen mittels sensomotorischen Feedbacks oder mit moderner Quantensensorik lösen – die Möglichkeiten sind vielversprechend.“
Mehr Informationen zu den digitalen Lösungen, die Ottobock bei der Herstellung und Anpassung seiner Prothesen nutzt, gibt es in diesem Beitrag.
Ein Beitrag von Bosse Kubach
Trainee Business Communications Digital Qualification & Innovation / Data Applications & Infrastructure